04. April 2011
Offener Brief
an die Fraktionen des Deutschen Bundestags
Aggression gegen Libyen beenden! Völkerrecht verteidigen!
Sehr geehrte Frau Birgit Homburger,
seit dem 19. März 2011 führt eine Allianz unter Führung Frankreichs, Großbritanniens und der USA einen Interventionskrieg gegen die Libysch-Arabische Dschamahirija. Die Interventionsmächte sind dabei, eine Anschlussoperation unter Führung der NATO zu organisieren.
Die öffentliche Begründung der Militäroperation stützt sich auf die Behauptung, dass unter der Führung des Obersten Muammar al-Gaddafi, (der unsinnigerweise als „Machthaber bezeichnet wird, obwohl er kein Staatsamt bekleidet), eine Demokratiebewegung mit solch brutaler Gewalt niedergeschlagen werde, dass ein Eingreifen aus humanitären Gründen geboten sei. Die Angriffe dienten dem Schutz von Zivilisten. Die Diskrepanz zwischen dieser Darstellung und der objektiven Situation könnte nicht größer sein.
Tatsächlich dienen die Angriffe der Schwächung der regulären libyschen Streitkräfte, die sich in einem Bürgerkrieg mit bewaffneten, unter dem Banner der Monarchie kämpfenden Gegnern der demokratischen Staatsordnung befinden. Durch den Eingriff der Allianz wurde der Bürgerkrieg, der schon so gut wie entschieden war, künstlich verlängert und so das Leid des libyschen Volkes vergrößert. Zivile Opfer der ausländischen Angriffe sind in Anbetracht der Kriegsführung und der eingesetzten Waffen unvermeidlich.
Von den eigennützigen Interessen der Hauptinterventionsmächte ist in der breiten Öffentlichkeit keine Rede: Westliche Energiekonzerne haben Verträge zur Öl- und Erdgasförderung mit Libyen abgeschlossen, in denen sie sich verpflichten, den überwiegenden Teil der Förderungen an libysche Unternehmen abzugeben. Eine neue, von den Interventionsmächten auf Gedeih und Verderb abhängige Staatsmacht würde diese Verträge annullieren und eine ungehemmte Ausbeutung der libyschen Bodenschätze durch ausländische Investoren zulassen. Darüber hinaus scheinen seit langem existierende geopolitische Strategieziele ein maßgebliches Motiv hinter der Intervention zu sein.
Zwar berufen sich die Interventen auf die Resolution 1973 (2011) des UNO-Sicherheitsrats vom 17. März 2011, die militärische Maßnahmen gegen Libyen zum Schutz der Zivilbevölkerung zulässt, jedoch erlaubt diese Resolution keine Parteinahme zugunsten einer Partei in einem Bürgerkrieg, was auch durch die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts und die UN-Charta untersagt wird.
Der Deutsche Freidenkerverband hat auf diese Umstände bereits zu Beginn der Militäroperation hingewiesen.
Allerdings hält auch die UNO-Sicherheitsrats-Resolution 1973 selbst keiner juristischen Überprüfung stand. Das diesem Schreiben als Anlage beigefügte Memorandum des Völkerrechtlers Prof. Dr. Hans Köchler, des Präsidenten der International Progress Organisation mit Sitz in Wien, macht deutlich, dass der Sicherheitsrat mit der Verabschiedung der Resolution 1973 seine durch die UN-Charta definierten Kompetenzen überschritten und gegen Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts verstoßen hat.
Prof. Dr. Köchler zeigt auf, dass der Sicherheitsrat allen Staaten der Welt einen Freibrief zur Intervention in Libyen ohne Vorgaben bezüglich der Dauer, der Art der Durchführung und der einzusetzenden Mittel ausgestellt hat. Ein Kontrollmechanismus, der darüber wacht, ob die Maßnahmen tatsächlich dem von der Resolution bestimmten Ziel des Schutzes der Zivilbevölkerung dienen, wurde nicht eingerichtet.
Ich möchte Prof. Dr. Köchler ausdrücklich in seiner Feststellung zustimmen: “Es ist offensichtlich, dass die Übertragung praktisch unbeschränkter Vollmachten an interessierte Parteien und regionale Gruppen [...] nicht nur mit der Charta der Vereinten Nationen sondern mit dem internationalen Recht an sich nicht vereinbar ist.“
Ferner weist Prof. Dr. Köchler darauf hin, dass die Resolution 1973 durch diese Generalermächtigung zur Intervention erst die Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit geschaffen hat, einzig zu deren Eindämmung der Sicherheitsrat doch militärische Maßnahmen beschließen darf.
Prof. Dr. Köchler schlägt eine völkerrechtliche Bewertung der Sicherheitsratsresolution 1973 durch den Internationalen Gerichtshof vor. Ein entsprechender Antrag an den Internationalen Gerichtshof könnte von der UNO-Generalversammlung oder dem Sicherheitsrat gestellt werden.
Einstweilen sind nach Auffassung des Deutschen Freidenkerverbandes die Argumente Prof. Dr. Köchlers so überzeugend, dass von der Völkerrechtswidrigkeit der Sicherheitsratsresolution 1973 auszugehen ist.
Aus der Völkerrechtswidrigkeit der Resolution folgt aber ihre Unwirksamkeit, und aus ihrer Unwirksamkeit wiederum folgt, dass jedwede ausländische Angriffshandlung gegen libysche Ziele völkerrechtswidrig ist und den Tatbestand der Aggression erfüllt. Dieser entspricht dem Begriff des Angriffskrieges im deutschen Strafgesetzbuch. Die laufende Militäroperation einschließlich der künftigen von der NATO koordinierten Maßnahmen in Bezug auf Libyen muss im Interesse des Völkerrechts sofort beendet werden. Auf deutschem Boden ausgeführte Handlungen, die mit ihr im Zusammenhang stehen, sind strafbar.
Der Deutsche Freidenkerverband hat sich wiederholt gegen die systematische Verletzung des Völkerrechts durch mächtige Staaten und die theoretische Negierung des Völkerrechts durch die demagogische Doktrin der „Humanitären Intervention“ bzw. „Responsibility To Protect“ ausgesprochen. Mit dem Libyen-Krieg ist es erneut akut notwendig geworden, das Völkerrecht im Interesse des Weltfriedens und der Gerechtigkeit zu verteidigen und einer demagogischen „humanitären“ Kriegspropaganda entgegenzutreten.
Die deutsche Bundesregierung hat sich bei der Abstimmung über die Resolution 1973 im UNO-Sicherheitsrat, dem Deutschland derzeit angehört, enthalten und die Teilnahme der Bundeswehr an der Intervention auch unter NATO-Kommando kategorisch ausgeschlossen. Beides ist angesichts der offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Resolution 1973 und des kriminellen Charakters der alliierten Intervention anerkennenswert. Es gibt Deutschland auch die moralische Legitimität, auf internationaler Ebene das völkerrechtswidrige Verhalten der Interventionsmächte zu thematisieren. Gleichzeitig beteiligt sich Deutschland jedoch indirekt an den Angriffshandlungen gegen Libyen: Erstens durch Entlastung der Interventionsmächte in Afghanistan mittels Übernahme von AWACS-Einsätzen durch die Bundeswehr; zweitens, indem die Koordinierung der US-Operationen in Libyen durch die AFRICOM-Zentrale in Stuttgart und die Nutzung von US-Militärstützpunkten in Deutschland nicht unterbunden wird. Nach der Definition des Aggressionsverbrechens, die durch die UNO-Generalversammlung in ihrer Resolution 29/3314 vom 14. Dezember 1974 festgeschrieben wurde, ist ein Land, das einem Aggressor sein Territorium zur Durchführung einer Aggression zur Verfügung stellt, selbst ein Aggressor.
Ich ersuche Sie hiermit im Namen des Deutschen Freidenkerverbandes, einen Gesetzentwurf im Bundestag einzubringen, der die Bundesregierung an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf Libyen erinnert und sie insbesondere beauftragt,
- auf internationaler Ebene eine sofortige Beendigung des völkerrechtswidrigen Interventionskrieg gegen die Libysch-Arabische Dschamarihija zu fordern;
- jedwede indirekte Unterstützung für die Intervention sofort zurückzuziehen und die Steuerung der US-Operationen in Libyen durch die AFRICOM-Zentrale in Stuttgart sowie die Nutzung von US-Militärstützpunkten nicht länger zu dulden;
- sich in der UNO für die Einholung eines Rechtsgutachtens des Internationalen Gerichtshofs über die Rechtswirksamkeit der Sicherheitsratsresolution 1973 (2011) zu engagieren, vorrangig im Sicherheitsrat, dem Deutschland zurzeit angehört;
- darüber zu wachen, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die sich in Deutschland mutmaßlich des Aufstachelns zum Angriffskrieg oder der Vorbereitung eines Angriffskrieges im Sinne der §§ 80, 80a StGB im Zusammenhang mit dem Libyen-Krieg schuldig gemacht haben, effizient betrieben wird.
Hochachtungsvoll
Klaus Hartmann
Bundesvorsitzender
In der Anlage zum Brief erschien ein Memorandum des Völkerrechtlers Professor Dr. Hans Köchler, des Präsidenten der "International Progress Organisation" mit Sitz in Wien (Quelle des Originals: http://i-p-o.org/IPO-nr-UN-Libya-28Mar.htm):
"Alle notwendigen Mittel”
Vereinte Nationen gegen Libysch-Arabische Dschamahirija:
Humanitäre Intervention oder Kolonialkrieg?
Memorandum des Präsidenten der International Progress Organization über die Sicherheitsratsresolution 1973 (2011) und ihre Umsetzung durch eine “Koalition der Willigen” unter der Führung der Vereinigten Staaten und der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation.
Am Samstag, 26. März 2011 übersandte der Präsident der International Progress Organization dem Präsidenten des Sicherheitsrats und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen folgendes Memorandum:
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss am 17. März 2011 eine Resolution mit dem ausdrücklichen Ziel, Zivilisten in dem innerstaatlichen Konflikt in der Libysch-Arabischen Dschamahirija zu schützen. Obgleich nach Artikel 27(3) der VN-Charta die „zustimmenden Voten“ der ständigen Mitglieder bei allen Beschlüssen über andere als Verfahrensfragen erforderlich sind, gilt die Resolution als rechtlich gültig, da es unter den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen üblich geworden ist, Enthaltungen als Zustimmung zu behandeln.
Um dem Erfordernis von Artikel 39 der Charta bei Verhängung von Zwangsmaßnahmen, einschließlich der Anwendung von Gewalt, zu entsprechen, hat der Sicherheitsrat festgestellt, dass die „Situation“ eines innerstaatlichen Konflikts in Libyen eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit darstellt. In Verletzung von Artikel 42ff der Charta über die kollektive Durchsetzung von Beschlüssen durch den Sicherheitsrat selbst, ermächtigen die operativen Paragraphen 4 und 8 der Resolution alle Mitgliedstaaten, einzeln oder durch regionale Organisationen oder Abmachungen, zum Schutz von Zivilisten und zur Durchsetzung einer so genannten „Flugverbotszone“ im Luftraum von Libyen „alle notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen.
Es ist offensichtlich, dass die Übertragung praktisch unbeschränkter Vollmachten an interessierte Parteien und regionale Gruppen – wie seit den Golf-Kriegsbeschlüssen von 1990/1991 üblich – nicht nur mit der Charta der Vereinten Nationen sondern mit dem internationalen Recht an sich nicht vereinbar ist. Obgleich die Bestimmungen des Artikels 43ff zur Bereitstellung von Streitkräften und nationalen Luftwaffenkontingenten zur Verfügung des Sicherheitsrats toter Buchstabe geblieben sind, und der Generalstabsausschuss nie funktionsfähig geworden ist, kann der Sicherheitsrat unter keinen Umständen die Anwendung von Gewalt autorisierten, deren Ausmaß und Form allein vom Ermessen der Parteien abhängt, die sich anbieten, im Namen der VN zu intervenieren. Die Verfahren, die in den operativen Paragraphen der Resolution 1973 (2011) vorgesehen sind und deren praktische Anwendung durch die interessierten Parteien, einschließlich der NATO, stehen im Widerspruch zur Doktrin der kollektiven Sicherheit, welche die Grundlage der Bestimmungen von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen bildet, und zwar unter mehreren wichtigen Gesichtspunkten:
1. Der Begriff „alle notwendigen Maßnahmen“ – die zu ergreifen interessierte Mitgliedstaaten aufgefordert werden, „um Zivilisten zu schützen“ (Par. 4) und „die Einhaltung des Flugverbots durchzusetzen“ (Par. 8) – ist nicht nur vage sondern total undefiniert. Im Zusammenhang internationaler Machtpolitik, werden unpräzise Begriffe unvermeidbar entsprechend dem Eigeninteresse der intervenierenden Parteien interpretiert und können daher niemals die Basis einer rechtlich gerechtfertigten Aktion sein. Solche Begriffe sind oft als Vorwand für einen praktisch unbeschränkten Gebrauch von Gewalt gebraucht worden.
2. Der Mangel an präziser Definition des Begriffs „alle notwendigen Mittel“ macht es von vornherein unmöglich, die Vereinbarkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen mit den in der Resolution erklärten Zielen nachzuprüfen. Dies garantiert den interessierten Staaten und Gruppen von Staaten sowie ihren politischen und militärischen Führern, praktisch ein Handeln außerhalb eines Rahmens gegenseitiger Kontrolle (checks and balances) und bei totaler Straflosigkeit.
3. Staaten zu „ermächtigen“, bei der Durchsetzung einer rechtlich bindenden Resolution „alle notwendigen Maßnahmen“ zu gebrauchen, ist eine Einladung zu willkürlichem und anmaßendem Gebrauch von Macht und entleert die Festlegung der Organisation der Vereinten Nationen auf das internationale Recht jeder Bedeutung. Die Tatsache, dass der Sicherheitsrat dieselbe Vorgehensweise bereits früher beschlossen hat, nämlich in der Resolution 678 (1990), die sich mit der Lage zwischen Irak und Kuwait beschäftigt, rechtfertigt nicht die gegenwärtige Aktion in der innerstaatlichen Konfliktlage in Libyen.
4. Die Interpretation des Begriffs “alle notwendigen Mittel” durch zwei führende Mitglieder der britischen Regierung kurz nach Annahme der Resolution ist ein Beweis für die Probleme, die durch die Verwendung eines undefinierten Begriffs und insbesondere den damit heraufbeschworenen Machtmissbrauch entstanden sind. Sowohl der Verteidigungsminister als auch der Außenminister weigerten sich ausdrücklich, die gezielte Tötung des libyschen Führers als eine der möglichen „Maßnahmen“ auszuschließen, die nach dem Text der Resolution 1973 (2011) zugelassen sind. Obwohl sie diese Ansichten in späteren Erklärungen nicht wiederholten, und der britische Premierminister ihre Interpretation von „alle notwendigen Maßnahmen“ nicht bestätigte, ist die Büchse der Pandora inzwischen geöffnet.
5. Die Charakterisierung der Resolution durch den Premierminister der Russischen Föderation als „unbrauchbar und fehlerhaft“, insoweit sie „alles erlaubt“ und „mittelalterlichen Aufrufen zu Kreuzzügen ähnelt“, war außerordentlich zutreffend. So schockierend diese Einschätzung für die selbst ernannten Hüter der Menschheit und Vertreter der so genannten „internationalen Gemeinschaft“ auch sein mögen, ein Verfahren, durch welches die Führung eines Landes zum international Geächteten erklärt und jeder (ob Staat oder Regionalgruppe) aufgefordert wird, sich, wie immer es ihm gefällt, an der Schlacht zu beteiligen, ähnelt in der Tat der Argumentation der Kreuzzüge. Internationale Selbstjustiz und humanitäre Gesetzlosigkeit sind Elemente der Anarchie und gehören zu einem prämodernen System imperialer Mächte, wie es vor der Abschaffung des Rechts zum Krieg (jus ad bellum) existierte.
6. Im Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII, einschließlich des Einsatzes bewaffneter Gewalt, beschwört die Formel „alle notwendigen Maßnahmen“ in Wirklichkeit das einseitige Handeln selbst ernannter Mitglieder einer „Koalition der Willigen“ herauf, was den Grundgedanken der kollektiven Sicherheit nicht nur allmählich untergräbt sondern ins Gegenteil verkehrt, und zwar im Dienste einer unerklärten imperialistischen Agenda, die sich hinter humanitären Motiven wie solchen verbirgt, die unter dem Slogan der „Responsibility to Protect“ (einer Zusammenstellung von Prinzipien, die von der VN-Generalversammlung im Jahre 2005 angenommen wurde und die frühere Phraseologie der „humanitären Intervention“ ersetzt zu haben scheint) verkündet werden.
7. Das Verbot der Gewaltanwendung gemäß Artikel 2(4) der Charta der Vereinten Nationen wird total bedeutungslos werden, wenn im Wege einer Resolution nach Kapitel VII jeder Mitgliedstaat zur Erreichung eines abstrakten Ziels in einseitiger Manier und ohne gegenseitige Kontrollen (checks and balances) in wirksamer Weise Gewalt gebrauchen kann.
8. Das erklärte Ziel des „Schutzes von Zivilisten“ wurde durch die interessierten Mitgliedstaaten verwirklicht, zuerst und vor allem durch die ehemaligen Kolonialmächte in Nordafrika im Tandem mit den Vereinigten Staaten, und zwar auf eine Art und Weise, die noch mehr Tote unter unschuldigen Zivilisten gefordert hat.
9. Im Widerspruch zu der Zielsetzung von Kapitel VII der VN-Charta hat die Durchsetzung der Resolution 1973 (2011) durch interessierte Parteien zu einer verstärkten Bedrohung der internationalen Sicherheit geführt statt diese einzuschränken. Was im Wesentlichen ein innerstaatlicher Konflikt war, der aus einem bewaffneten Aufstand entstand, ist nun ein internationaler geworden. Durch Einmischung in eine innerstaatliche Konfliktlage auf Seiten einer Partei, haben die Staaten, die es übernahmen, die Resolution einzeln oder durch die NATO mit Zwang durchzusetzen, den Konflikt weiter angeheizt und eine Lage geschaffen, die zum Zerfall Libyens führen könnte mit der Aussicht auf langfristige Instabilität in der gesamten nordafrikanischen und mediterranen Region.
10. Die Mitwirkung der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) als koordinierende Einheit zur Erzwingung des Flugverbots und letzten Endes aller militärischen Operationen in Libyen hat die internationalen Dimensionen des Konflikts weiter verkompliziert. Die NATO ist ein gegenseitiger Verteidigungspakt europäischer Staaten, einschließlich der Türkei und zweier nordamerikanischer Staaten. Obzwar unter dem Deckmantel von „Krisenreaktionsoperationen“ und edlen humanitären Zielen wird die Angriffaktion in Nordafrika – außerhalb des Vertragsgebiets – den internationalen Frieden und die Sicherheit noch mehr bedrohen. Die Mitwirkung der NATO als einer regionalen Organisation, zumal diese nicht die betroffenen arabischen und nordafrikanischen Regionen repräsentiert, ist ebenfalls Beweis für die Gefahren der generellen Ermächtigungsformel in Resolution 1973 (2011). Sicher repräsentiert die NATO ein Spektrum von Interessen, das total verschieden von denen der betroffenen Region ist. Angesichts ihrer Beschaffenheit und politischen Agenda ist es völlig unangemessen, dass die Nordatlantische Vertragsorganisation als ausschließlicher Vollstrecker von Kapitel VII-Resolutionen des Sicherheitsrats tätig wird.
11. Durch die Entscheidung in Libyen „Zivilisten zu schützen“ und dabei nicht in vergleichbaren Situationen in Bahrain und Jemen zu handeln, hat sich der Sicherheitsrat offensichtlich zu einer Politik des zweierlei Maßes entschlossen, die durch die strategischen und ökonomischen Interessen der intervenierenden Länder bestimmt ist.
12. In einem Akt äußerster Heuchelei verbergen die intervenierenden Länder ihre Eigeninteressen hinter den erklärten humanitären Zielen in der Resolution 1973 (2011). Unter dem Deckmantel der „Verantwortung zu beschützen“, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen als Begründung der Resolution beschwört, hat sich in Wirklichkeit eine einseitige Anwendung von Gewalt durchgesetzt, die auf militärische Maßnahmen hinausläuft, die als Kriegsakte auf Seiten einer Partei in einem innerstaatlichen Konflikt weit über die erklärten Ziele der Resolution hinausgehen und unter völliger Straflosigkeit und ohne ausreichende gegenseitige Kontrolle (checks and balances) durchgeführt werden. Bedingt durch die Ermächtigungsformel „alle notwendigen Mitteln“, hat sich der Sicherheitsrat selbst zum Zuschauer gemacht. Wegen der Abstimmungsregeln von Artikel 27(3) der VN-Charta kann die Ermächtigung nicht ohne die Zustimmung jener ständigen Mitglieder aufgehoben werden, denen es gelungen ist, diese in die Resolution einzufügen.
13. Es muss daran erinnert werden, dass der operative Paragraph 6 der Resolution 1970 (2011), mit dem der Sicherheitsrat die Lage in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verwiesen hat, allen Vertretern und Angehörigen der Länder, die in Libyen intervenieren, eine Art „vorbeugende Straflosigkeit“ gewährt, insoweit sie trotz des Überweisungsbeschlusses nach Artikel 13(b) des Römischen Statuts nicht der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs unterliegen. Diese Vorgehensweise, die auf eine tatsächliche Änderung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs hinausläuft, zu welcher der Sicherheitsrat keine Befugnis hat, offenbarte die ausschlaggebende Bedeutung politischer Erwägungen gegenüber solchen der Rechtsprechung und Menschenrechte.
14. In Übereinstimmung mit der Tendenz des Sicherheitsrats seit dem Ende des Kalten Krieges, sich Vollmachten anzumaßen, die ihm in der Charta nicht gegeben sind, und sein Mandat als globaler „Verwalter von Rechtsprechung“ zu erweitern, scheint die Resolution 1973 (2011) den Handlungsspielraum auf der Grundlage von Kapitel VII weiter vergrößert zu haben und damit auch den Schutz der Zivilbevölkerung in innerstaatlichen Konfliktsituationen einzuschließen. Doch wenn der Rat danach strebt, ein Vollstrecker von Rechten und ein Schiedsrichter in innerstaatlichen Konflikten zu sein, muss er sich an die grundlegenden Prinzipien der Herrschaft des Rechts halten, zu allererst die Ausschaltung von Willkür bei der Durchsetzung des Rechts. So lange er Mitgliedstaaten ermuntert so zu handeln, wie es ihnen beliebt, und ihnen erlaubt, ihre eigenen nationalen Interessen in der Verkleidung von Vollstreckungsverfahren im Namen der Vereinten Nationen voranzutreiben, wird die Praxis des Sicherheitsrats selbst ein Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit darstellen.
15. In Anbetracht der juristischen Widersprüche, die sich aufgrund der nach Kapitel VII der Charta beschlossenen Resolutionen des Sicherheitsrats aus der Ermächtigung zur Anwendung „aller notwendigen Maßnahmen“ ergeben, und die gewissermaßen die Legitimität der Weltorganisation als Agentur der kollektiven Sicherheit selbst beeinträchtigen, sollten die Mitgliedstaaten der Generalversammlung der Vereinten Nationen erwägen, ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs nach Artikel 96(1) der Charta einzuholen.
Dr. Hans Köchler
International Progress Organization
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Quelle des Originals: http://i-p-o.org/IPO-nr-UN-Libya-28Mar.htm
Übersetzung aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff